Stress: Die Angst vor der Ruhe

Wie mich Bullet Journaling in den Wahnsinn trieb


»Ich hab 'ne super Idee wie ich mich entspannen kann!« dachte ich noch euphorisch zu Beginn meiner ganzen Bullet Journaling Reise mit 21 Jahren »Anstatt mir jetzt immer einen vorgefertigten Terminkalender zu kaufen, zeichne ich mir einfach immer selber meine Wochen- und Monatsansichten mit wunderschönen Deckblättern in ein leeres Notizbuch. Das bringt mich bestimmt zur Ruhe neben meinem Semesterstundenplan für zwei, meinen Doppelschichten in einem Burgerladen, meiner gerade neu gestarteten Freiberuflichkeit, meiner frischen Beziehung, dem 90 Tage Workout von Jillian Michaels, dem Umzug in eine neue WG, meinem gerade verstorbenen 16 Jahre alten Hund, meinem Haushalt und den Haushalt meiner toxischen Eltern und meiner Oma.« Zeit für Freunde hatte ich zu dem Zeitpunkt schon erfolgreich aus meinem Leben gestrichen.

Für alle, die nichts von dem Thema gehört haben: Bullet Journaling ist ein selbst gestaltetes Notizbuch mit handgezeichneten Seiten, der als Kalender, Ideensammlung oder als Ort für Listen, Ideen & Gedanken genutzt wird.

Was ich damals noch nicht ahnte ist, dass mich das ständige Vorzeichen der Monate und Listen total stressen würde. Es musste ja alles nicht nur ganz exakt und sauber sein, sondern sollte dabei auch noch überragend schön aussehen! Und ich habe zu der Zeit Design studiert … Also meine Ansprüche waren, sagen wir mal: eben einfach nur angebracht! Aber ich hielt mich davon nicht ab. Ich hatte schließlich meinen eisernen Willen, der mich über 3 Jahre hinweg in dieser Stressspirale von »Oh nein ich muss den nächsten Monat wieder zeichnen« und »So ein scheiß, das Deckblatt ist schon wieder nicht so geworden wie ich wollte!« festhielt.

Als ich irgendwann dann ‚komischerweise‘ keine Zeit mehr neben den ganzen anderen Mist dafür fand, musste ich mir nach zig 1000. durch-radierten Seiten eingestehen, dass es mir mehr Stress bereitet als, dass es mich runter brachte. Nun mag es von außen nicht verwunderlich klingen, dass ich damals ein totaler Workaholic war und einfach nicht zur Ruhe fand. Ja, ich hatte regelrecht Angst vor der Stille. Dieses unangenehme Geräusch von Nichts. Ekelhaft!


Lieber hielt ich mich mit niemals endenden To-Do-Listen auf Trab, als mir einzugestehen, dass ich mit meinem Leben überfordert war. 


Lieber hatte ich keine Zeit für eine Pause, anstatt zu viel Zeit zum chillen. Ich redete mir damals regelrecht ein, dass Stress auch gut für mich sei. Hallo, noch nie was von positivem Stress gehört?! Es gab mir das Gefühl auf Hochspannung zu sein und versorgte mich neben meinem Kaffeekonsum mit noch mehr Energie. Das Gegenteil von Prokrastination, das war ich! Dachte ich zumindest… Denn aus meiner heutigen Perspektive weiß ich, dass damals einfach so viel Wichtigeres passiert ist, dass ich mich lieber mit unwichtigem Kram beschäftigt hielt, als wirklich mal hinzuschauen.

Lieber hielt ich mich mit niemals endenden To-do-Listen auf Trab, als mir einzugestehen, dass z. B. die neue Beziehung nach einer geraden 3 Jahren, beendeten Beziehung herausfordernd für mich war. Oder, dass meine Eltern absolut kein Recht hatten, mir mein Unterhalt zu verweigern. Oder auch, dass ich nicht verantwortlich für meine 82-jährige Oma bin, die mir vorher 16 Jahre vorenthalten wurde. Es wäre für mich damals zu schmerzvoll gewesen, diesen und vielen anderen Tatsachen ins Auge zu blicken. Genau deswegen habe ich auch meine Zeit gebraucht, um ehrlich zu mir selber sein zu können. Und das Bullet Journaling habe ich vollends aus meinem Leben gestrichen.

Hier findest du weitere Texte und Illustrationen zu meinen persönlichen Erfahrungen mit der Angst

Auf meinem Instagram Account @jacciullmann kannst du nicht nur meine Gedanken zum Thema mit mentaler Gesundheit, sondern auch meinen kreativen Illustrationsprozess verfolgen!

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Mach keinen Zirkus! – Kuriositätenkabinett der Ängste